Als Alexander dreizehn Jahre alt war, beschloss Philipp, der bis zu diesem Zeitpunkt nicht viel mit der Erziehung seines Sohnes zu tun hatte, einen Lehrer für ihn zu suchen. Daraus entwickelte sich eine der berühmtesten Mentor-Schüler-Beziehungen der Geschichte. Philipps Gründe für die Wahl von Aristoteles waren nicht rein akademischer Natur. Erstens gab es eine familiäre Verbindung zu Aristoteles: Sein Vater war Hofarzt eines früheren mazedonischen Königs gewesen. Außerdem hatte Aristoteles zuvor am Hof des Hermeias in Atarneus gedient, und ein Bündnis mit ihm wäre für Philipps Pläne, in Persien einzumarschieren, von Nutzen gewesen.
Die Position passte auch zu Aristoteles. Sie bot nicht nur eine hohe Ehre und die Möglichkeit, seine Forschungen im mächtigsten der griechischen Staaten fortzusetzen, sondern gab ihm auch die Gelegenheit, die Entwicklung des zukünftigen Staatsoberhauptes zu beeinflussen. Als letzte Gegenleistung stellte Philipp auch Aristoteles‘ Geburtsstadt Stagira wieder her, die er Jahre zuvor selbst erobert hatte.
Alexanders Ausbildung fand an einem Ort statt, der von der Hauptstadt Pella entfernt war, nämlich in dem abgelegenen Dorf Mieza, im so genannten Nymphenbezirk. In dieser ländlichen Abgeschiedenheit lernte Alexander einige seiner bedeutendsten Schüler kennen, von denen einige später selbst Könige wurden. Bei Alexanders Abreise ermahnte Philipp seinen Sohn, hart zu arbeiten und zu lernen, um die Fehler seines Vaters nicht zu wiederholen. Im Gegenzug tadelte Alexander seinen Vater dafür, dass er Kinder von anderen Frauen gehabt hatte. In dieser Hinsicht scheint Alexander nicht so sehr von moralischen Gewissensbissen geplagt zu sein, sondern eher von der Sorge um zukünftige Konflikte um die Thronfolge seines Vaters. Alexanders Ehrgeiz war also schon in diesem Stadium, wenn nicht sogar schon früher, offensichtlich.
Alexanders Ausbildung war größtenteils formell, nicht die Art von Lebenserziehung, die wir uns in einer Mentorenbeziehung vorstellen könnten. Vielmehr bestand der Lehrplan hauptsächlich aus Standardfächern wie Poesie, Rhetorik, Geometrie, Astronomie und Eristik – der Praxis, einen Standpunkt von beiden Seiten aus zu argumentieren. Alexander entwickelte ein besonderes Interesse an der Medizin – und zwar nicht nur ein theoretisches, denn er verordnete sein ganzes Leben lang Behandlungen für kranke Freunde. Als Alexander zu seiner asiatischen Invasion aufbrach, nahm er eine große Gruppe von Zoologen und Botanikern mit, die mit gesammelten Materialien und Informationen zurückkehrten, die die Grundlage für mehrere bahnbrechende wissenschaftliche Werke bilden sollten. Ein weiteres Lieblingsthema Alexanders war die griechische Poesie. Er hegte eine besonders große Verehrung für Homer und sah den mythischen Achilles sogar als Vorbild für sein eigenes Leben an.
Auch wenn Aristoteles vielleicht am besten für seine wissenschaftlichen Abhandlungen bekannt ist, veröffentlichte er auch seine Ethik und Politik, und sein Einfluss auf diese Bereiche erreichte auch Alexander. Aristoteles machte diesen Einfluss vor allem in Bezug auf die so genannten Barbaren geltend – ein Begriff, mit dem im Wesentlichen alle Nicht-Griechen charakterisiert wurden. Alexander selbst war bereits leidenschaftlich gegen die Perser eingestellt, und Aristoteles lieferte ihm die intellektuelle Rechtfertigung für seine schicksalhafte und ererbte Mission. Aristoteles glaubte, dass die Sklaverei eine natürliche Einrichtung sei und dass die Barbaren von Natur aus dazu bestimmt seien, Sklaven zu sein. Er ermutigte Alexander daher, für die Griechen ein Führer und für die Barbaren ein Despot zu sein, der die ersteren als Freunde und die letzteren als Bestien behandelte.
Aristoteles sah die Barbaren als Menschen, die nur durch und für ihre Sinne lebten und unfähig waren, sich über den Hedonismus zu erheben. Alexander legte in seinem Bestreben, einem heroischen Vorbild zu folgen, naturgemäß großen Wert auf die Ehre und damit auf die Tugenden der Selbstbeherrschung und der Selbstverleugnung, weshalb er in seinem eigenen Leben sparsam aß, großzügig spendete, aber wenig für sich selbst behielt, und eine vorsichtige Haltung gegenüber dem Sex hatte.In dieser Hinsicht war der Einfluss von Aristoteles wahrscheinlich von entscheidender Bedeutung, denn er brachte Alexander auf einen Weg, der sich stark von dem eher unsicheren Modell seines Vaters unterschied.
Alexander verbrachte drei Jahre mit dem Studium des großen Philosophen. In der Zwischenzeit mobilisierte sein Vater Truppen, um ungehorsame Verbündete in Perinth und Byzanz zu besuchen. Im Jahr 340 v. Chr. forderte Philipp den sechzehnjährigen Alexander auf, zurückzukehren und in Philipps Abwesenheit als Regent von Mazedonien und Meister des königlichen Siegels zu dienen. So zog sich Alexander von der Akademie zurück und begann mit den Lektionen des wirklichen Lebens.