Annales d’Éthiopie, 2010, 25, 271-281 271 Ardipithecus ramidus und die Geburt des Menschen

Jean-Renaud Boisserie*

Ein berühmter französischer Paläontologe erzählt oft von der Reaktion seiner beleidigten Großmutter, nachdem er ihr von der menschlichen Evolution erzählt hatte: „Nun, DU magst ein Nachkomme von Schimpansen sein, aber ICH bestimmt nicht!“ Die berühmte Lucy, unsere 3,2 Millionen Jahre alte Vorfahrin aus Äthiopien, hat vor kurzem eine „Großmutter“ gefunden, die ihr das Gleiche hätte sagen können. Jahrzehntelang waren viele Wissenschaftler, die Australopithecus afarensis (Lucys Art) untersuchten, der Meinung, dass sich die menschlichen Vorfahren aus etwas entwickelt haben, das wie ein Schimpanse aussieht. In einer spektakulären Reihe von 11 Artikeln, die im Oktober 2009 in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurden, setzte ein internationales Forscherteam diesem Paradigma ein Ende. In diesen Artikeln beschrieb das Team ein weibliches Teilskelett eines menschlichen Vorfahren (ARA-VP 1/500, Spitzname „Ardi“; Abb. 1A) sowie zahlreiche fragmentarische Überreste anderer Individuen, die im mittleren Awash-Tal (Afar, Äthiopien) entdeckt wurden. Die 4,4 Millionen Jahre alten Exemplare gehören zu der Art

Ardipithecus ramidus.

Diese Art ist nicht der älteste bekannte menschliche Vorfahre und wurde erstmals vor 16 Jahren beschrieben (White et al., 1994), basierend auf der Untersuchung von fragmentarischen Überresten gleichen Alters und vom gleichen Fundort (Aramis). Die Neuartigkeit der Art und ihr hohes Alter sind jedoch keine zwingenden Voraussetzungen für die wissenschaftliche Bedeutung der Fossilien: Die neu veröffentlichten Fossilien stellen eine der wichtigsten Entdeckungen zur menschlichen Evolution dar. Sie werfen ein noch nie dagewesenes Licht auf unsere Ursprünge, indem sie die kaum bekannte Morphologie einer Evolutionsstufe, die der des Australopithecus vorausging, umfassend dokumentieren. Dieser kurze Bericht kommt auf diese bedeutende Entdeckung und ihre Auswirkungen zurück und berichtigt einige falsche oder unzureichende Herangehensweisen an das Thema in einigen Nachrichtenberichten (siehe Kasten: Was Ardi uns nicht sagt).

* Centre Français des Études Éthiopiennes (USR 3137/ UMIFRE 23), CNRS & Ministère des Affaires Étrangères, Addis Abeba, Éthiopie ; Institut International de Paléorimatologie, Paléontologie Humaine : Évolution et Paléoenvironnements (UMR 6046), CNRS & Université de Poitiers, Frankreich.

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