Überblick
Myoklonische Epilepsie im Säuglingsalter ist eine seltene, selbstbegrenzte, idiopathische, generalisierte Epilepsie, die typischerweise im Alter von 6 Monaten bis 2 Jahren auftritt. Sie ist gekennzeichnet durch das Auftreten myoklonischer Anfälle als einzige Anfallsart (abgesehen von einfachen Fieberkrämpfen) bei normalen Säuglingen, die entweder spontan oder durch unerwartete akustische oder taktile Reize ausgelöst werden (Reflexvariante). Der Langzeitverlauf ist in der Regel günstig, da die Anfälle verschwinden und die kognitiven Funktionen normal sind. Aus Berichten über einen langwierigen Verlauf geht jedoch hervor, dass bei etwa 20 % der Patienten andere Anfallsformen auftreten, vor allem im Jugendalter, und dass etwa 39 % hauptsächlich leichte bis schwere kognitive Beeinträchtigungen aufweisen. Die Reflexvariante dieses Syndroms hat eine bessere Prognose, da fast alle Patienten auch ohne Behandlung innerhalb von Wochen oder Monaten nach dem Ausbruch anfallsfrei werden. Das Syndrom sollte von anderen epileptischen und nicht-epileptischen Erkrankungen, die mit myoklonischen Zuckungen einhergehen, unterschieden werden. Der Autor stellt die klinischen und EEG-Manifestationen, die Epidemiologie, die Pathophysiologie, die Differentialdiagnose und das Management dieser eher gutartigen, früh einsetzenden idiopathischen myoklonischen Epilepsie vor.
Schlüsselpunkte
– Die myoklonische Epilepsie im Säuglingsalter (früher als „benigne myoklonische Epilepsie im Säuglingsalter“ bezeichnet) umfasst 2 Formen: eine mit vorwiegend spontanen Anfällen und eine mit vorwiegend reflexartigen Anfällen, die durch unerwartete akustische und taktile Reize ausgelöst werden. Spontane und reflexartige Anfälle können bei demselben Kind auftreten. |
|
– Die myoklonische Epilepsie im Säuglingsalter ist eine frühe Form der möglicherweise genetisch bedingten idiopathischen generalisierten Epilepsie. |
|
– Die Anfälle sind selbstlimitierend, pharmakoresponsiv und können ohne Behandlung remittieren. |
|
– Trotz vollständiger Remission der Anfälle sind die langfristigen kognitiven Ergebnisse bei etwa 30 % der Patienten abnormal, in der Regel im Bereich einer leichten und selten einer schweren Beeinträchtigung. Die Faktoren für dieses ungünstige Ergebnis sind nach wie vor unbekannt. |
|
– Die Reflexvariante ist wirklich gutartig, mit frühem Aufhören der Anfälle und normaler neurokognitiver Entwicklung. |
Historische Anmerkung und Terminologie
Dravet und Bureau beschrieben 1981 die „benigne myoklonische Epilepsie im Säuglingsalter“ bei 7 normalen Kindern mit Beginn der myoklonischen Anfälle in den ersten drei Lebensjahren (Dravet und Bureau 1981). Das Syndrom wurde so definiert, dass es nur myoklonische Anfälle umfasst, mit Ausnahme seltener einfacher Fieberkrämpfe, und eine gute Prognose hinsichtlich des Ansprechens auf die Therapie und der kognitiven Funktionen aufweist. Zuvor wurde in einer Studie über früh auftretende Epilepsien (Dalla Bernardina et al. 1978) über eine frühe gutartige myoklonische Epilepsie bei drei Säuglingen berichtet, allerdings ohne bekannte Nachuntersuchungen. 1977 gab Jeavons einem ähnlichen Syndrom, das im Alter von 3 Jahren beginnt, den Namen „myoklonische Epilepsie des Kindesalters“ (Jeavons 1977). Bis heute sind etwa 200 Fälle bekannt geworden. Die Gutartigkeit des Syndroms wurde in Frage gestellt, was zu einer Änderung des Namens in „myoklonische Epilepsie im Kindesalter“ führte (Engel 2006; Zuberi und O’Regan 2006). Es wurde die Bezeichnung „idiopathische myoklonische Epilepsie im Kindesalter“ vorgeschlagen (Dravet und Vigevano 2008). Die ILAE-Kommission für Klassifikation und Terminologie schlug zunächst vor, „idiopathisch“ durch „genetisch“ zu ersetzen (Berg et al. 2010), empfahl aber kürzlich, dass entweder „idiopathisch“ oder „genetisch“ verwendet werden kann (Scheffer et al. 2017).
Ricci und Mitarbeiter beschrieben 6 normale Säuglinge mit reflexartigen myoklonischen Zuckungen, die durch unerwartete (Schreck-)Hör- oder Tastreize ausgelöst wurden (Ricci et al. 1995). Die Anfälle traten vor dem Alter von 2 Jahren auf und bildeten sich nach 3 bis 12 Monaten rasch zurück. Sie schlugen vor, dass es sich hierbei um eine neue „reflexive myoklonische Epilepsie des Kindesalters“ handelt, ein altersabhängiges idiopathisches generalisiertes Epilepsiesyndrom mit einer offenbar guten Prognose (Ricci et al. 1995). Bis heute sind etwa 80 Fälle von anderen Autoren beschrieben worden (Verrotti et al 2013b). Es ist umstritten, ob es sich bei dieser Reflexform um eine Variante der myoklonischen Epilepsie im Säuglingsalter oder um ein eigenständiges reizempfindliches Syndrom handelt.
Im Vorschlag der ILAE wird die myoklonische Epilepsie im Säuglingsalter einschließlich der Reflexvariante zu den neonatalen/infantilen epileptischen Syndromen gezählt (Berg et al 2010). Es folgt eine vollständige Beschreibung aus dem ILAE-Epilepsiehandbuch (Commission on Classification and Terminology of the International League Against Epilepsy 2014):
Overview. Dieses Epilepsiesyndrom ist ungewöhnlich. Myoklonische Anfälle sind der einzige Anfallstyp, der zu Beginn auftritt. In seltenen Fällen können auch fiebrige Anfälle auftreten. Myoklonische Anfälle können bei einem Fünftel der Patienten durch Fotostimulation ausgelöst werden, während andere Patienten myoklonische Anfälle haben, die durch plötzliche Geräusche oder Berührung ausgelöst werden. Es können kognitive, verhaltensbezogene und motorische Schwierigkeiten auftreten. Die Anfälle sind selbstlimitierend und hören innerhalb von 6 Monaten bis 5 Jahren nach ihrem Auftreten auf. Generalisierte Krampfanfälle können in den Teenagerjahren selten auftreten.
Anmerkung. Selbstlimitierend bezieht sich auf Anfälle, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem vorhersehbaren Alter spontan zurückgehen. |
Klinischer Kontext. Dieses Syndrom ist durch das Auftreten von myoklonischen Anfällen im Alter zwischen 6 Monaten und 2 Jahren gekennzeichnet, wobei in einigen Fällen ein früheres (4 Monate) oder späteres Auftreten (2 bis 4 Jahre) berichtet wurde. Myoklonische Anfälle können bei einigen Patienten durch Lichtstimulation, bei anderen durch plötzliches Geräusch oder Berührung ausgelöst werden. Seltene Fieberkrämpfe können bei etwa 10 % der Patienten auftreten. Die Anfälle klingen innerhalb von 6 Monaten bis 5 Jahren nach ihrem Auftreten wieder ab, aber bei 10 % bis 20 % der Patienten können im Teenageralter generalisierte Krampfanfälle auftreten. Bei Patienten mit Lichtempfindlichkeit können die Anfälle schwieriger zu kontrollieren sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Männer betroffen sind, ist doppelt so hoch wie die von Frauen. Die Vorgeschichte und die Geburtsgeschichte sind unauffällig. Kopfgröße und neurologische Untersuchung sind normal. Es wird über kognitive, motorische und Verhaltensschwierigkeiten berichtet, insbesondere wenn die Anfälle nicht kontrolliert werden können.
Zwangsanfälle. Myoklonische Anfälle werden beobachtet. Sie betreffen vor allem den Kopf (der nickt), die Augäpfel (die nach oben rollen), die oberen Extremitäten (die Arme werden nach oben und außen geschleudert) und das Zwerchfell (was zu Vokalisation führt). Seltener sind die unteren Gliedmaßen betroffen, was zu Stürzen führt. Die Zuckungen können einzeln oder in einer Reihe auftreten und unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Reaktionsfähigkeit bleibt erhalten, kann jedoch bei einer Häufung von Zuckungen in einer Serie reduziert sein. Zuckungen können in allen Zuständen auftreten (Wachheit, Schläfrigkeit, langsamer Schlaf und beim Aufwachen).
Patienten können haben:
– Einfache Fieberkrämpfe (gesehen bei 10 %, selten) |
|
– Generalisierte Krampfanfälle (gesehen bei 10 % bis 20 % der Patienten im Jugendalter, selten) |
|
– Früh einsetzende Absence-Anfälle wurden bei bis zu 20 % der Patienten mit myoklonischer Epilepsie im Säuglingsalter beobachtet. |
|
– Eine Entwicklung zur juvenilen myoklonischen Epilepsie kann auftreten. |
|
– In Fallberichten wurde über eine Entwicklung zur medikamentenresistenten Epilepsie berichtet. |
|
– Die Entwicklung zu einer myoklonisch-astatischen Epilepsie wurde in Fallberichten berichtet. |
Ausschließend. Andere Anfallstypen sind ausschließend.
EEG-Hintergrund. Das Hintergrund-EEG ist normal.
Interiktales EEG. Das interiktale EEG ist normal.
Aktivierung. Schlaf kann das EEG aktivieren, und es können generalisierte Spike-and-Wave- und Polyspike-and-Wave-Ereignisse auftreten, mit oder ohne begleitende myoklonische Zuckungen im klinischen Sinne. Ein Fünftel der Patienten ist lichtempfindlich, wobei die myoklonischen Zuckungen durch Lichtreize ausgelöst werden. Bei 10 % der Patienten können myoklonische Zuckungen durch plötzliche Geräusche oder Berührungen im Wach- oder Schlafzustand ausgelöst werden.
Iktales EEG. Myoklonische Zuckungen sind mit generalisierten Spike-and-Wave- oder Polyspike-and-Wave-Entladungen verbunden.
Bildgebung. Die Neurobildgebung ist normal.
Genetik. Das Vererbungsmuster ist unbekannt, aber wahrscheinlich genetisch bedingt.
Anamnese von Krampfanfällen/Epilepsie in der Familie. Eine Familienanamnese von Fieberkrämpfen oder Epilepsie findet sich bei einem Drittel der Patienten.
Differenzialdiagnose.
– Dravet-Syndrom: Myoklonische Anfälle sind häufig, treten jedoch typischerweise im zweiten Lebensjahr auf und gehen einer Phase der Anfälligkeit für Fieberkrämpfe voraus. |
|
– Hypnogotische Zuckungen |
|
– Hyperekplexie |
|
– Gutartiger Myoklonus des frühen Säuglingsalters oder gutartige Krämpfe des Säuglingsalters |